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20.10.2023

Clara Zetkin in einer Reihe mit Faschisten?

Tübingen: Geschichtsrevisionistischer Angriff auf die Mitbegründerin der Roten Hilfe Matthias Rude, Tübingen

Clara Zetkin war Kommunistin, Antifaschistin, Kriegsgegnerin, Frauenrechtlerin – und Mitbegründerin der historischen Roten Hilfe. In ihren letzten zwölf Jahren vor ihrem Tod 1933 nahm die Tätigkeit für die Internationale Rote Hilfe (IHR) großen Raum in ihrem Leben ein. Ab 1925 war sie deren Präsidentin sowie die Vorsitzende der Roten Hilfe Deutschlands. Die IRH und ihre nationalen Ableger leisteten praktische Solidarität und materielle Unterstützung für politische Gefangene und Verfolgte. Zetkin kritisierte unmenschliche Haftbedingungen, organisierte so manche Flucht für vom Tod Bedrohte in den faschistischen Ländern, engagierte sich für die zahlreicher werdenden politischen Emigranten und gegen den Rassenhass weltweit. Als etwa 1932 in den USA acht Jugendliche angeklagt waren, veröffentlichte sie in der Zeitschrift der IRH einen Aufruf mit dem Ziel, ein Justizverbrechen zu verhindern, in dem es hieß: „Auf zur Rettung der acht jungen Menschen, die vom Henker auf den Scheiterhaufen des elektrischen Stuhls geschleppt werden sollen und deren einzige Schuld ist, in schwarzer Haut geboren zu sein!“

Geht es nach der Stadt Tübingen, so soll der dortige Gemeinderat am 26. Oktober entscheiden, die Clara-Zetkin-Straße im Stadtteil Lustnau als „in der Kritik stehend“ zu markieren, mit einem „Knoten“ aus dem 3D-Drucker, den sonst nur Namensgeber von Straßen verpasst bekommen, die Faschisten oder Kriegsverbrecher waren. Clara Zetkin in einer Reihe mit den Faschisten, gegen die sie bis zu ihrem Tod 1933 unermüdlich angekämpft hat – wie konnte es zu einer solchen Empfehlung kommen?

Totalitarismus-Gespenst

Seit 2020 ist die Kritik an Straßennamen in Tübingen verstärkt Thema. Das Kulturamt legte ursprünglich eine Liste mit elf Namen vor – Personen, die mit dem NS-Regime, mit Antisemitismus, Kriegsverbrechen oder Kolonialismus in Verbindung stehen. Eine siebenköpfige Historiker-Kommission unter Leitung von Dr. Johannes Großmann wurde beauftragt, die Biografien dieser Personen wissenschaftlich zu prüfen. „Ihren Arbeitsauftrag habe die Gruppe selbst ausgeweitet, so Großmann, und sämtliche Tübinger Straßennamen unter die Lupe genommen“, berichtete die Lokalzeitung Schwäbisches Tagblatt im Januar 2023, als die Kommission ihren Abschlussbericht vorlegte. In diesem wurden statt der ursprünglichen elf, nun 18 Namensgeberinnen und Namensgeber als „kritikwürdig“ betrachtet – darunter auch Clara Zetkin. Die Kommission wirft ihr „Demokratiefeindlichkeit“ und „Mitwirkung an Justizverbrechen“ vor. Über die Motive kann man nur spekulieren. Im April schrieb die Kontext-Wochenzeitung, das „Totalitarismus-Gespenst“ manifestiere sich in Tübingen „in einem harten Knoten“. Weiter schrieb sie: „Man könnte auf den Gedanken kommen, die Kommission habe überlegt: Jetzt haben wir so viele Rechte auf dem Knoten-Kieker, da muss sich doch wohl auch eine Linke beigesellen lassen. Damit die Waage halbwegs ausgelastet ist. Die Hufeisenenden sich zusammenfinden.“

Noch Anfang des Jahres gründete sich das Aktionsbündnis „Kein Knoten für Zetkin“, das inzwischen von über 25 linken, antifaschistischen, antimilitaristischen und feministischen Gruppen unterstützt wird. Eine Vielzahl von Veranstaltungen zum Thema fand statt. Im März beispielsweise war die Zetkin-Kennerin Florence Hervé zu Gast in Tübingen, im September stellte Lou Zucker ihr Buch Clara Zetkin: Eine rote Feministin vor. Es gab auch eine Podiumsdiskussion, an der Kommissions-Vertreter teilnahmen. Diese konnten nicht überzeugen: Nach der Diskussion bezeichnete die Lokalzeitung den Vorschlag der Kommission als „Posse“ und forderte: „Lieber ein Knoten für Bismarck oder Ebert“. Für diese Straßen hatte die Kommission keine „Knoten“ empfohlen, genauso wenig wie für die nach König Wilhelm I. von Württemberg benannte Wilhelmstraße. Anlässlich des 90. Todestages Zetkins rief das Bündnis im Juni zu einer Aktionswoche auf, in deren Rahmen unter anderem der Wilhelmstraße ein „goldener Knoten“ verliehen wurde – die Begründung: „Was bei Zetkin nur behauptet wird, trifft bei Wilhelm zu: Tübingens repräsentativste Straße ist nach einem König benannt, der Demokratie ablehnte – er wollte, wie er sagte, das Volk ‚vom periodischen Fieber der Wahlen befreien‘ – und die Prügel- und Todesstrafe wieder einführte! Grund genug für uns, nachzuholen, was die Kommission versäumt hat, und dem alten Monarchen einen dicken Knoten zu verleihen – natürlich standesgemäß in Gold!“ Im August wurden in der Tübinger Neckargasse, wo Zetkin sich 1919 mehrere Tage lang verstecken musste, da Rechtsradikale einen Mordanschlag auf sie geplant hatten, von Aktivisten Gedenktafeln angebracht.

Wissenschaftlich nicht korrekt

Das Bündnis unterzog die Behauptungen der Kommission einer kritischen Prüfung. Seine Rechercheergebnisse bündelte es in einem Fact Sheet, dessen Fazit lautet: „Die Kommission hat, was Zetkin angeht, historisch und wissenschaftlich nicht korrekt gearbeitet. Die Behauptungen, die sie gegen Zetkin anführt, sind teilweise objektiv falsch und lassen sich sogar mit den Quellen, die die Kommission selbst angeführt hat, widerlegen. Der Gemeinderat sollte der Empfehlung der Kommission in Bezug auf die Clara-Zetkin-Straße nicht folgen.“ Unter anderem hatte die Kommission behauptet, Zetkin habe in einem Prozess in Moskau 1922, an dem sie im Auftrag der Kommunistischen Internationale teilnahm, für Todesurteile plädiert. Das Bündnis konnte unter Verweis auf historische Quellen zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist: Es war gerade Zetkins Einsatz zu verdanken, dass die Entscheidungsträger die Todesurteile aussetzen ließen. Dafür setzte sie sich unter anderem in einem Brief an die russische Regierung ein, der erhalten ist. Zetkin habe ihm gegenüber darauf „bestanden“, man müsse „das Leben der Angeklagten schonen“, berichtete Leo Trotzki in seiner Autobiografie. „Das Resultat ihrer Teilnahme an diesem Prozess war also, dass die Angeklagten vor der Todesstrafe bewahrt wurden! Diese Begebenheit in Zetkins Biografie und ihre Rolle darin wird verdreht dargestellt und gegen sie verwendet“, heißt es auf der Website des Bündnisses. Auch die Geschichtswerkstatt Tübingen hat die Behauptungen der Kommission überprüft und erklärte in einer Stellungnahme an den Gemeinderat, dass sie sich den Argumenten des Aktionsbündnisses anschließe.

Obwohl die Vorwürfe widerlegt sind, hält das Tübinger Kulturamt an seiner Empfehlung fest. Auffällig an seiner im September vorgelegten Beschlussvorlage ist, dass der Abschnitt über Zetkin darin ganz anders lautet als noch im Abschlussbericht der Kommission. So ist beispielsweise der Vorwurf, Zetkin habe für Todesstrafen plädiert, sang- und klanglos verschwunden. „Das Lavieren des Kulturamts zeigt, dass unsere Kritik sehr wohl zur Kenntnis genommen wurde – eine öffentliche Korrektur der ursprünglichen Behauptungen gab es aber trotzdem nicht“, so Sophie Voigtmann, Sprecherin des Bündnisses. Überrascht ist sie von diesem Verhalten aber nicht. Bereits im Mai entfernte die Stadt das Angebot zum „Mitdiskutieren“ von ihrer Website und löschte bereits eingegangene kritische Beiträge kommentarlos. In einer öffentlichen Sitzung im Tübinger Rathaus am 5. Oktober versuchte Dagmar Waizenegger, Leiterin des Fachbereichs Kunst und Kultur des Kulturamts, dieses Vorgehen der Stadt mit der Behauptung zu rechtfertigen, über das Online-Formular seien so viele Beleidigungen eingegangen, dass es personell nicht mehr möglich gewesen wäre, dieser „Flut“ noch beizukommen. Laut Aktionsbündnis handelt es sich dabei um eine Lüge: „Erst durch entsprechenden Druck haben wir erreicht, dass die Statements, die über das Formular getätigt wurden, wie auf der Website der Stadt versprochen, den Mitgliedern des Gemeinderats jetzt zur Verfügung gestellt worden sind. Unter ihnen findet sich nur eine einzige Zuschrift, die als Beleidigung interpretiert werden kann. Löschen und Lügen – nicht gerade im Sinne einer offenen, demokratischen Debatte, die sich die Stadt angeblich gewünscht hat“, so Voigtmann.

Die Kommission verhalte sich nicht professioneller: Anstatt Irrtümer zuzugeben und den Vorschlag, die Clara-Zetkin-Straße mit einem „Knoten“ zu markieren, zurückzuziehen, beschwere sie sich lieber über angebliche „Diffamierungen“. Die Historiker sähen sich „offenbar von sachlicher Kritik und von der Anführung historischer Quellen persönlich angegriffen“, heißt es in einer Eingabe an den Gemeinderat, in der das Aktionsbündnis zu diesen Vorwürfen Stellung bezieht. Das Bündnis habe aber „ausschließlich sachlich und mit Verweis auf nachprüfbare historische Quellen argumentiert“.

Was tun?

Am 26. Oktober, dem Tag der Entscheidung, wird vor dem Tübinger Rathaus eine Kundgebung stattfinden. Im Anschluss will das Bündnis die öffentliche Ratssitzung besuchen. Was bis dahin noch getan werden kann? Man könne den Mitglieder des Gemeinderats, die über den „Knoten“ abstimmen werden, schreiben und „versuchen, sie davon zu überzeugen, dass es eine schlechte Idee ist, die Antifaschistin Clara Zetkin mit Faschisten in eine Reihe zu stellen“, so Voigtmann. Letzteres sieht auch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) so. Die Organisation unterstützt das Bündnis und macht in einer Stellungnahme deutlich, „dass jedwede Gleichstellung von Antifaschistinnen und Antifaschisten mit den Verbrechern und Profiteuren des Naziregimes eine untragbare und überaus gefährliche Form des Geschichtsrevisionismus darstellt“.

Mehr Informationen auf der Website des Aktionsbündnisses: keinknoten. wordpress. com.