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27.10.2022

Stuttgarter Justiz außer Rand und Band: Linke Aktivisten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt

Beweise sind nicht nötig, Gesinnung reicht: Wegen angeblicher Beteiligung an der „Stuttgarter Krawallnacht“ im 21. Juni 2020 verhängte das Amtsgericht Stuttgart zwei hohe Urteile gegen linke Aktivisten: Nachdem der erste Angeklagte am 24. Oktober 2022 zu drei Jahren und neun Monaten verurteilt worden war, belief sich das Urteil gegen den zweiten Betroffenen am 26. Oktober 2022 auf drei Jahre und zwei Monaten Haft. Grundlage waren ein mehr als fragwürdiges anthropologisches Gutachten, das auf qualitativ extrem minderwertigen, teils offenbar illegalen Videoaufnahmen beruhte – und der unbedingte Verfolgungswille der Stuttgarter Justiz. Gegen beide Urteile werden Rechtsmittel eingelegt.

 In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 entlud sich die Wut über die anhaltenden polizeilichen Schikanen und rassistischen Kontrollen, von denen besonders migrantisierte und sozial benachteiligte Jugendliche betroffen waren, in der Stuttgarter Innenstadt. Bereits unmittelbar nach den Auseinandersetzungen hatte der Landesinnenminister Thomas Strobl ein hartes Vorgehen angekündigt und faktisch die Justiz aufgefordert, abschreckende Exempel zu statuieren. Zahlreiche Beteiligte waren monatelang in Untersuchungshaft und wurden zu extrem hohen Bewährungs- oder Haftstrafen verurteilt, die teilweise so offensichtlich unrechtmäßig waren, dass sie in zweiter Instanz gekippt wurden. Bei der Suche nach Gründen für die spontane „Krawallnacht“ erhoben die Repressionsorgane bald die Behauptung, dass sich Linke beteiligt hätten – und ermittelten gezielt gegen bekannte Aktivist*innen, ohne konkrete Anhaltspunkte zu haben.

Der Prozess, in dem am 26. Oktober 2022 das Urteil von drei Jahren und zwei Monaten gegen den angeklagten Genossen verkündet wurde, beruhte in weiten Teilen auf einem grotesk anmutenden Gutachten anhand der Videoaufnahmen. Die Aussagen der Polizeizeug*innen dienten nicht der möglichen Identifizierung des Angeklagten, sondern sollten nur die These untermauern, dass sich Linke an der „Krawallnacht“ beteiligt hätten.

Folglich stand das anthropologische Gutachten im Mittelpunkt. Tatsächlich existieren von den Vorgängen nur Tausende qualitativ extrem schlechte Videoaufnahmen, auf denen schemenhafte Gestalten zu erkennen sind. Dazu zählen auch Aufzeichnungen eines geparkten Tesla-Autos im „Wächter-Modus“, die gegen die Datenschutzbestimmungen verstoßen. Um die Genossen, die ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten waren, dennoch zu überführen, wurden die Videos von Juni 2020 mit polizeilichem Vergleichsmaterial abgeglichen, das ausschließlich über 20 Menschen aus der linken Szene bestand – somit hatten sich Polizei und Justiz von Anfang an darauf versteift, politische Aktivist*innen zu verurteilen.

Da Gesichtszüge oder andere körperliche Merkmale nicht klar zu erkennen waren, konzentrierte sich der Gutachter auf Körperhaltung, Bewegungsabläufe und Kleidungsstücke. Obwohl er nur acht der mehr als 200 für solche Gutachten nutzbaren Merkmale einbeziehen konnte, vermerkte er als Ergebnis „Identität hoch wahrscheinlich“ – nur die dritthöchste Wahrscheinlichkeitskategorie, aufgrund derer der Genosse jetzt drei Jahre und zwei Monate in Haft soll; eine frühere Bewährungsstrafe von acht Monaten wurde dabei einbezogen.

 Im Prozess, der am 24. Oktober endete, waren gegen den Angeklagten neben der vermeintlichen Teilnahme an der „Krawallnacht“ noch zwei weitere Vorwürfe erhoben worden: So soll er nach Ansicht des Gerichts an einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Anhänger der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ am Rand einer „Querdenken“-Demonstration Anfang Mai 2020 beteiligt gewesen sein. Außerdem wurde ihm ein „tätlicher Angriff“ auf einen Polizeibeamten vorgeworfen, da sich der Aktivist einem Polizisten in den Weg gestellt haben soll, als dieser einen Mitdemonstranten festnehmen wollte. Obwohl zu den beiden ersten Anklagepunkten keine Beweise, sondern ausschließlich inhaltlich nicht aussagekräftige Aussagen von Polizeizeug*innen und das fragwürdige Vergleichsgutachten existieren, fällte die Richterin das hohe Urteil von drei Jahren und neun Monaten und entschied sich bewusst gegen die Anwendung des Jugendstrafrechts. Dass es sich dabei um offen politische Justiz handelte, erklärte sie selbst, indem sie das Urteil mit der „ideologischen Verblendung“ des Angeklagten begründete.

 

„Die Stuttgarter Justiz hat mit diesen Urteilen erneut bewiesen, dass sie bei der Verfolgung von linken Aktivist*innen nicht einmal den Schein von Rechtsstaatlichkeit zu wahren versucht“, kommentierte Anja Sommerfeld vom Bundesvorstand der Roten Hilfe e. V. die hohen Haftstrafen. „Ziel ist nicht die Verfolgung von Straftaten, sondern die Einschüchterung einer kämpferischen linken Bewegung in der Stadt, indem engagierte Aktivist*innen unter fadenscheinigen Vorwänden aus ihrem Leben herausgerissen und auf Jahre inhaftiert werden. Doch dieser staatlichen Strategie stellen wir unsere organisierte Solidarität entgegen. Wir lassen die Genossen nicht allein. Die Rote Hilfe e. V. solidarisiert sich mit den beiden Betroffenen und fordert ein Ende der politischen Justiz in Baden-Württemberg, die immer mehr Linke einsperrt. Wir fordern die umgehende Freilassung der gefangenen Stuttgarter Antifaschisten Jo, Dy und Findus und die Aufhebung der jetzigen Urteile!“