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30.10.2025 | Pressemitteilung

Offener Brief: Novellierung des ASOG stoppen

Am 28.10.2025 veröffentlichten der RAV und vier weitere Organisationen einen offenen Brief an das Berliner Abgeordnetenhaus, mit einem Aufruf, den wir als Rote Hilfe e.V. mit Nachdruck unterstützen möchten.
Offener Brief

Die Fraktionen von CDU und SPD bringen einen Entwurf für ein Gesetz zur Reform des Berliner Polizei- und Ordnungsrechts und zur Änderung des Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin. An einer breiten, öffentlichen Debatte vorbei soll das Gesetz die Befugnisse der Polizei insbesondere in Bezug auf die Erfassung, Nutzung und Vernetzung personenbezogener und biometrischer Daten erweitern. Videoüberwachung und automatisierte Verhaltensmustererkennungen an sogenannten kriminalitätsbelasteten Orten, die Verwendung von KI-gestützten „Superdatenbanken“ oder biometrischer Abgleich mit im Internet öffentlich zugänglichen Daten öffnen nicht nur Tür und Tor für potenzierte Diskriminierung durch Repressionsbehörden, sondern wirken geradezu wie die Schwelle zu einem dystopischen, autoritärem Staat.

Jedes neue Polizeigesetz, das in den letzte Jahren in der BRD verabschiedet wurde, hat Grundrechte weiter eingeschränkt und sich zum massiven Nachteil von Bürger*innen und politischen Bewegungen ausgewirkt. Gerade vor dem Hintergrund von Repressionsbehörden, die es nicht für nötig erachten, sich an geltendes Recht zu halten (mit voller Rückendeckung des Innenministers), und vor der massiv gestiegenen Polizeigewalt gerade in Berlin, rufen wir das Berliner Abgeordnetenhaus auf, das Gesetzgebungsverfahren auszusetzen und sprechen den Unterzeichner*innen unsere Solidarität aus.

Rote Hilfe e. V.

Offener Brief an die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses, 28.10.25

Wir, die Unterzeichner*innen, wenden uns mit diesem Offenen Brief und unseren Forderungen an die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses

Mit Antrag vom 02.07.2025 haben die Fraktionen der CDU und der SPD den Entwurf für ein Gesetz zur Reform des Berliner Polizei- und Ordnungsrechts und zur Änderung des Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin (ASOG-E, Abgh-Drs. 19/2553) vorgelegt. 

Das wäre die zweite Novelle innerhalb kürzester Zeit. Sie ist nicht bloß ein Update polizeilicher Befugnisse. Der Gesetzesentwurf umfasst insgesamt 736 Seiten. Inhaltlich ermöglicht er u. a. automatisierte Superdatenbanken (§ 47a ASOG-E), Videoüberwachung und automatisierte Verhaltensmustererkennung an „kriminalitätsbelasteten Orten/gefährdeten Orten“ (§ 24e ASOG-E/§ 24 a ASOG-E) oder biometrische Abgleiche mit im Internet öffentlich zugänglichen – personenbezogenen – Daten (§ 28a ASOG-E). Das Diskriminierungsrisiko ist alarmierend. Es ist zu befürchten, dass unüberwachter Aufenthalt in weiten Teilen Berlins unmöglich wird. Dazu treten Ermächtigungen zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung und Online-Durchsuchung („Staatstrojaner“).

Dass der Entwurf unmittelbar vor der Sommerpause und ohne erkennbares Bemühen um öffentliche Debatte und fachliche Auseinandersetzung eingebracht wurde, lässt sich schwer als Versehen lesen. Die geplanten Änderungen sind gravierend. Die Wahrung der Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung sowie Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme („IT Grundrecht“) ist nicht gewährleistet. Ohne noch zu wissen, wie effektiv verdachtsunabhängige Kontrollbefugnisse an sogenannten kriminalitätsbelasteten Orten (kbO) sind, sieht die Novelle kurzerhand eine Erweiterung um Videoüberwachung und automatisierte Verhaltensmustererkennung vor.

Wir fordern Sie auf, das Gesetzgebungsverfahren auszusetzen, um eine öffentliche Debatte und fachliche Auseinandersetzung zu ermöglichen, die dem Gewicht der geplanten Grundrechtseingriffe gerecht wird.

Grundrechtlich besonders drastisch erscheinen u. a. die Ermächtigungen zur Errichtung einer orts- und verhaltensübergreifenden Analyseplattform (Data Mining / Superdatenbank, § 47a ASOG-E), zum biometrischen Abgleich mit über das Internet öffentlich zugänglichen personenbezogenen Daten (Data Scraping, § 28a ASOG-E) oder zur automatisierten Verhaltensmustererkennung (§ 24e ASOG-E). So lässt es § 47a ASOG-E in seiner derzeitigen Fassung zu, Datenbestände der Polizei losgelöst von konkreten Anlässen dauerhaft zusammen zu führen. Die Möglichkeiten zum Erstellen von Bewegungsprofilen, Verhaltensmuster- und Sozialkontaktanalysen machen die „Superdatenbank“ zu einem Instrument eines Predictive Policing, das in den verbotenen oder zumindest Hochrisikobereich der KI-VO fällt. Zwar dürfte nach aktuellem Stand keine Nutzung von Palantir-Produkten in Berlin geplant sein. Verstöße gegen EU-Recht sind damit aber nicht automatisch abgewendet. Der Entwurf gibt vor, sich an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu halten. Umfang, Art/Herkunft und Methode des Data Minings dürften jedoch nicht ausreichend festgelegt sein, um den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zur automatisierten Datenverarbeitung in Hamburg und Hessen gerecht zu werden (1 BvR 1547/19; 1 BvR 2634/20).

Mit § 28a ASOG-E (Data Scraping) ist die Möglichkeit geschaffen, biometrische Daten wie Gesichtsbilder oder Stimmmerkmale mit öffentlich zugänglichen Daten aus dem Internet abzugleichen. Das bedeutet, jedes – etwa auf einer Versammlung, Veranstaltung oder auch gegen den Willen — erstellte Foto oder Video, steht einem automatisierten, KI-gestützten Abgleich zur Verfügung. Derzeit ist nicht vorgesehen, dass die personenbezogenen Daten nach einem Abgleich zu löschen sind. Damit droht der Aufbau einer ungezielt ausgelesenen Datenbank, was ebenfalls nicht mit der KI-VO und den vom Bundesverfassungsgericht etablierten Standards vereinbar sein dürfte.

Aus Erkenntnissen zu verdachtsunabhängigen Kontrollen an „kriminalitätsbelasteten Orten“ wissen wir derzeit v. a.: Sie sind anfällig für Diskriminierungen, insbesondere Racial Profiling. Weitgehend unklar ist, wie effektiv sie sind; ob registrierte Straftaten Resultat der Gefahrenlage oder des polizeilichen Kontrollfokus ist. Ungeachtet dessen erweitert § 24e ASOG-E polizeiliche Eingriffsbefugnisse – ebenso wie an gefährdeten Orten – um Videoüberwachung und automatische Datenauswertung. Hier schafft der Entwurf eine Grundlage für flächenmäßig umfassende Überwachung in Berlin. Diskriminierungsgefahren steigen weiter; insbesondere „atypische“ Verhaltensmuster, Praxen jenseits normativer Gesellschaftsvorstellungen, vermitteln im Rahmen automatisierter Auswertung „Gefahr“. Menschen mit Einschränkungen werden intensiver behindert, Wohnungslose weiter ausgegrenzt. Ermächtigungen wie die in § 42d ASOG-E vorgesehene Weiterverwendung von Daten zum KI-Training verschärfen diesen Kreislauf. Das mag § 17a ASOG-E, der nun eine Festlegung der kbO über Rechtsverordnung vorsieht, nicht auszugleichen. Die in § 12 Abs. 3 ASOG-E enthaltene Aufforderung, polizeiliche Maßnahmen nur im Einklang mit dem (verfassungs)rechtlich gewährleistetem Schutz vor staatlicher Diskriminierung aus Art. 3 Abs. 3 GG, Art. 10 Abs. 2 VvB und § 2 LADG durchzuführen, irritiert im Gesamtzusammenhang des Entwurfs nahezu. Dies umso mehr, als die Formulierung im Umkehrschluss (Ungleichbehandlung mit jeglichem sachlichen Grund rechtfertigbar) die verfassungsrechtlichen Standards der Diskriminierungsverbote unterschreitet.

Wir fordern Sie auf, das Recht zu schützen, hier in Berlin frei von Massenüberwachung, Kontrolle und Diskriminierung zu leben. Das bedeutet für den Moment, die geplante Novellierung des ASOG zu stoppen.

 

Weitere Unterzeichner*innen des offenen Briefes sind